THEMENSCHWERPUNKT

Während des Festivals werden in jedem Jahr Vorträge, Podiumsdiskussionen und Praxispanels mit einem bestimmten thematischen Schwerpunkt präsentiert. Erfahrene Editor*innen, Filmwissenschaftler*innen und hochkarätige Gäste aus den Bereichen Produktion, Regie oder Institutionen wie beispielsweise der FSK und der Deutschen Filmakademie sprechen dabei gemeinsam mit den Festivalmachern und dem Publikum über praktische und theoretische Aspekte der Filmmontage.
Auch in diesem Jahr besteht der Themenschwerpunkt aus einem Vortrag und zwei Themenpaneln, die die Theorie des Filmschnitts anschaulich machen und dessen Praxis reflektieren – zum ersten Mal finden diese Veranstaltungen online statt.
Edi-Motion: Schnitte in Bewegung
Gäste: André Hammesfahr, Jürgen Winkelblech, Andrew Bird, Janine Dauterich, Georg Seeßlen
Bewegungen einzelner Körperdetails, Bewegungen im Raum, Bewegung eines Individuums, Bewegungen mehrerer mit- und gegeneinander, Bewegungen zu Musik, auf und neben Rhythmen, ritualisierte Bewegungen, Bewegung als Wettkampf, als Metapher. In Bewegung schneiden heißt mehr als Rhythmus gestalten, als Blicke lenken und Einstellungen abwägen: Die Montage von Tanz wird selbst zu Komposition, zu Interpretation und Kommunikation. Die Schnittentscheidungen in der Darstellung eines Boxkampfes können dem Publikum ganz eigene Schläge in die Magengrube oder auf den Solar Plexus verpassen. Die dokumentarische Erzählung von Protagonisten zwischen Virtuosität und Blockade bei der Ausübung ihres Sports erhält nicht zuletzt durch die Montage ihren Subtext. Ob bewusst oder intuitiv, ob gewollt oder zufällig: Montage von Bewegung bedeutet Stellung zu beziehen.
Einerseits dient Bewegung im Bild ganz klassisch als Organisationsprinzip der Montage, die weiche Verbindung zwischen zwei Bildern soll als „Bewegungsschnitt“ die Ablenkung des Publikums vermeiden, den Vorgang der Montage möglichst unsichtbar machen. Dem gegenüber steht die nach dem 2. Weltkrieg vermehrt auftauchende Forderung, in der Montage diese sensomotorische Vermittlung der Bilder mit harten Schnitten zu kontrastieren, die ein direktes Verhältnis zu Zeit und Denken herstellen und das Publikum aktivieren. Wie verhält es sich nun mit filmischen Sujets, in denen Bewegung im Bild der Kern des Kunstwerks ist? In dem Tanz, Körper und (Wettkampf)choreographien zentraler filmischer Betrachtungsgegenstand sind? Der Themenschwerpunkt 2020 greift den neuen Namen des Festivals spielerisch auf und thematisiert unter dem Motto „Edi-Motion“ eine besondere Dimension der Montage, ihr Verhältnis zur für das Medium Film wesensbestimmenden Bewegung.

Schnitt und Schlag – Modellmontage Boxkampf
Vortrag: Georg Seeßlen
Ein Boxkampf ist eine kinematographische Modellsituation, die perfekte Vor-Inszenierung von Bild- und Bewegungsräumen, die perfekte Dramaturgie von Schlag, Gegen-Schlag, Unterbrechung und sicherer Zeugenschaft durch das Publikum.
Wo die Montage verschiedenster modellhaften Einstellungen zunächst fast als Grundübung der Montage scheint, wartet tatsächlich besondere Herausforderungen: „Mogeln“ ist keine Option, die Montage erzeugt eine zweite Bedeutungsebene jenseits des äußeren Dramas. Erzählt man einen Kampf gut gegen böse? Ist es eine tragische Situation ohne Ausweg? Handelt es sich um eine Parodie auf Schicksal und Residenz? Und wir? Ist unser Blick sadistisch-genüßlich, mitleidend, fatalistisch, parteilich?
Einen Boxkampf montieren, heißt mit jeder noch so kleinen Entscheidung einen emotionalen und moralischen Eingriff in ein archaisches und festgelegtes Ritual vorzunehmen. Beschleunigung, Retardierung, Wiederholung, Subjektivierung, Distanzierung, Fluss oder Bruch, alles ist hier Teil einer emotionalen Achterbahn, oft mit dem Ziel, diesen Kampf mehr zu erleben als nur anzusehen. Und wo die Möglichkeiten der Montage ebenso reichhaltig wie kanonisiert sind, da sind auch die Gefahren groß: Boxkämpfe können sehr leicht statt emotional auch ideologisch inszeniert und montiert werden, zur Konstruktion heroischer Männlichkeit etwa, oder zu einem Kampf der Systeme.

Moves Montieren – Film-Tanz oder Tanzfilm?
Gäste: Andrew Bird, Janine Dauterich
Tanz und Film schaffen ihre Formen beide mit den Mitteln von Zeit, Raum und Bewegung. Doch wie finden beide zu einer Einheit, auf welch unterschiedliche Arten spielt das eine oder das andere die Hauptrolle und entfaltet seine Wirkungen? Sind Film und Tanz bei einem Projekt gleichwertig, oder ist der Tanz bloße ästhetische Illustration bzw. als Unterhaltungselement Mittel zum Zweck? Oder verharrt umgekehrt das Gezeigte ohne eigenständige Lösung vom beschränkten Theaterraum am Ende im „abgefilmten Tanz“? Montage kann unterschiedliche Tanzsprachen zu einem eigenständigen Kunstwerk verweben, kann den kinematographischen Raum selbst zum aktiven Element des Tanzes machen oder aber in Respekt vor einer Ursprungschoreographie möglichst zurückhaltend in der Ferne verharren und das für die Bühne Gedachte vergleichend im filmischen Raum nachzeichnen. Nahe Einstellungen von Körperdetails in Bewegung vermitteln im Tanzfilm Intensität, schaffen Empathie mit den Tanzenden – doch wirkt nicht das Detail als eingrenzende Limitierung, als Zerstörung choreographischer Muster? Wenn tänzerische Bewegung durch Montagetechnik komprimiert, jenseits der Gesetze der Schwerkraft zerstückelt oder durch Dopplung und Dehnung verlängert wird – stärkt oder konterkariert dies die Autorenhaltung? Und für wessen Augen wird montiert – zielt der Film auf experimentierfreudige Cineasteninnen oder mainstreamorientierte Liebhaber klassischer Opernübertragungen als Publikum? Jede Entscheidung im Montageprozess bezieht hier Stellung im Spannungsfeld von Film-Tanz und Tanzfilm.
Auch innerhalb der jeweiligen Ausrichtung gilt es, die in der Montage tänzerischer Bewegungen zur Verfügung stehenden Techniken und Erzählmuster bewusst und wirkmächtig zu verwenden. Doch welche Mittel genau hat die Tanzmontage neben den gängigen Bewegungsschnitten und wodurch wird welcher Effekt erzielt? Wann ist es einer künstlerischen Gesamtvision dienlich, in der Montage gezielt mit Auslassungen, Einstellungs- und Achsensprüngen zu arbeiten, Bewegungsmuster zu doppeln oder zu dehnen? Besonders in diesem Genre ist das Zusammenspiel mit der gewählten Ästhetik essentiell: Bietet die Kamerasprache die Möglichkeit, dass ein Bild „sich frei tanzt“ und wann nutzt der Schnitt sie am besten, wie lässt sich Spannung steigern durch „leere Bilder“, Irritation erzeugen mit harten Schnittstellen oder die Erwartungshaltung des Publikums bewusst unterlaufen in Vermeidung berechenbarer Regelmäßigkeit?
Im Spannungsfeld von Zeit, Raum, Körper und Bewegung stellen sich immer wieder auch Fragen auf der Metaebene. Denn Bewegung geschieht oft intuitiv – spielt auch beim Tanz der Zufall eine Rolle und was bedeutet diese Idee für den Schnitt?
Diese und andere Fragen werden – auch mittels ganz konkreter Beispiele und Filmausschnitte – im Dialog zweier Fachleute ausgelotet: Janine Dauterich, Expertin für und Editorin von vielfältigen Tanzmontagen stellt u.a. ihr seinerzeit in Kooperation mit dem ZDF Theaterkanal entwickeltes Projekt Embodied vor, in dem fünf durch Montage verwobene Tänze verschiedene innere Zustände und Konflikte spiegeln. Editor Andrew Bird spricht über seine den Schnitt der Regisseurin Alla Kovgan maßgeblich beratende Tätigkeit für den Porträt- und Tanzfilm Cunningham, der Leben, vor allem aber Choreographien des Ausnahmetänzers und -choreographen zum Gegenstand hat.

Spiel, Satz, Schnitt – Montage von Sportdokumentarfilmen
Gäste: André Hammesfahr, Jürgen Winkelblech
Zum Sporttreiben gehört neben der Bewegung seit jeher das Zuschauen. Auch der Mediensport ist längst mit seinen Ritualen und Symbolen als Element von Alltagsleben und Popkultur ein eigenständiges Genre – mit einer ganz speziellen Dramaturgie in der Inszenierung von Bewegung und der Emotionalisierung des Publikums: Ein auf den Ausgang des Wettkampf gerichteter Spannungsbogen, aber auch Möglichkeit zu individueller Interpretation und Identifikation in begleitenden Trainingsszenen oder Close ups der sich mimisch spiegelnden inneren und äußeren Kämpfe der Idole.
Der Dokumentarfilm nimmt sich – im Gegensatz zum Mediensport – auch über die sportliche Inszenierung hinaus Zeit für die Protagonisten, schaut genau hin, wartet ab. Spiegelt sich dennoch der Kanon der gängigen medialen Bilder und Schnittfolgen in Kinodokumentarfilmen über Sportler? Welche eigenständigen Akzente setzen sie, wo bedienen sie sich der klassischen Mittel zur Steigerung der Dramatik, wo wird bewusst konterkariert? Wie wird der Kontext eben jener klassischen, im Kern immer der Narration von Gewinnen und Verlieren oder einer spezifischen Athletenkarriere dienenden Montagesequenzen erweitert oder umgewertet, wodurch wird ein Dokumentarfilm mehr als das plakatives rise and fall einer Sportlerlaufbahn durch zahlreiche Wettkämpfe, die Spannung eine tiefer gehende als der reine Zieleinlauf? Und welche Rolle nimmt jeweils das Publikum ein – ist die Bewegungsstudie als sportliche Erotik filmische Wirkabsicht, unterhält ein bewusst gesetzter filmischer Kontrast von Welten oder gelingt es sogar, aus der sportlichen Bewegung heraus den Blick auf gesellschaftliche Zusammenhänge und universelle Themen zu lenken? So porträtiert etwa Herbstgold fünf Athleten – alle zwischen 80 und 100 Jahre alt – in der Vorbereitung auf die Leichtathletik-WM der Senioren in Finnland. Die Verbindung vertrauter athletischer Bewegungen mit von Verfall und Leistungsschwund geprägten Körpern kontextualisiert neu, an übliche Schnittweisen angelehnte Sequenzen von Training und Wettkampf, Rückschlägen und Triumphen werden zum Wettlauf gegen die Zeit und stellen ungewöhnliche Fragen. Auch Nowitzki. Der perfekte Wurf ist mehr als eine Reise durch die Stationen eines Sportlerlebens, mehr noch als die in der Montage versichtete Kontrastierung von Stagnation und Widerstand im Training mit der gigantischen Show der Play Offs der NBA. Aus den vielfältigen Möglichkeiten des Materials und einem dreistündigen Rohschnitt wurde schließlich die titelgebende Bewegung des von Nowitzkis langjährigem Trainer Holger Geschwindner entwickelten „perfekten Wurfs“ als emotionaler Motor destilliert und zur filmischen Kernerzählung rund um eine ungewöhnliche Freundschaft.