EdiMotion23. – 26. Oktober 2020

Ehrenpreis

Die Hommage und der Ehrenpreis Schnitt sind für unser Festival von Beginn an ein besonders wichtiges Anliegen. Die Kunst der Filmmontage findet meist im Verborgenen statt, und auch ihre Künstler neigen eher nicht dazu, das Rampenlicht zu suchen. Wie sehr herausragende Editorinnen oder Editoren ihre Filme mit geprägt haben, ist oft nur ihren Produzenten und Regisseuren bekannt. Dies zu ändern, haben wir uns Aufgabe gemacht. Die Hommage richtet daher jedes Jahr ihre Scheinwerfer auf eine Editoren-Persönlichkeit, deren Wirken, Filmografie und Einsatz für den Beruf es verdient hat, in einem feierlichen und öffentlichen Rahmen gewürdigt zu werden. Die Liste der bisherigen Preisträger des Ehrenpreises umfasst Editorinnen und Editoren mit durchaus unterschiedlichen Herkünften, Schwerpunkten und Lebenswegen. Eines vereint aber alle: Die Leidenschaft und den besonderen Einsatz für ihre oft unterschätzte – und zu selten thematisierte – eigenschöpferische Leistung im Dienste des Films.

Preisträgerin 2020

© Werner Busch© Werner Busch
Karin Schöning - unsere Ehrenpreisträgerin 2020

Alljährlich würdigen wir mit dem Ehrenpreis Schnitt das Lebenswerk herausragender Filmeditor*innen. In unserem 20. Jubiläumsjahr wird die Schnittmeisterin Karin Schöning den Preis für ihr Schaffen bei uns in Empfang nehmen.

Die Festivaleröffnung von Edimotion am Freitag, den 23. Oktober 2020 wird ganz im Zeichen dieser Würdigung stehen: Wir präsentieren mit der Premiere der restaurierten Fassung des Dokumentarfilms „Der Boxprinz“ eine der herausragendsten Montageleistungen von Karin Schöning. Regisseur Gerd Kroske wird an diesem Abend die Laudatio auf die Ehrenpreisträgerin halten, die im anschließenden Filmgespräch über ihre Karriere und Arbeitspraxis sprechen wird. Diese Themen werden auch bei dem persönlichen Werkstattgespräch „Meet Karin Schöning“ am Sonntag, den 25.10. im Fokus stehen.

Der Ehrenpreis Schnitt wird am Abend des 26. Oktober 2020 im Filmforum NRW im Museum Ludwig nach der Laudatio durch Karin Schönings langjährigen Kreativpartner Thomas Heise überreicht. Am selben Tag wird ihr gemeinsamer Film „Barluschke“ im OFF Broadway Kino im Rahmen der Hommage gezeigt.

Die in Berlin lebende Filmeditorin montierte mehr als 50 Dokumentarfilme für Kino und Fernsehen und arbeitete häufig mit Regisseuren wie Gerd Kroske, Thomas Heise, Heinz Brinkmann und Dieter Schumann zusammen. Seit den 1970er Jahren arbeitete sie für das DEFA-Studio für Dokumentarfilme und montierte zahlreiche mittellange und kurze Dokumentationen und Reportagen. In der Wendezeit gestaltete Karin Schöning mit „flüstern & SCHREIEN“ (1989) ihren ersten Langfilm, der die rebellische Jugendkultur in der DDR beleuchtet. Der Film „Leipzig im Herbst“ (1989) gehört zu den bedeutendsten Dokumenten der Revolution in Ostdeutschland. Hier traf sie zum ersten Mal mit Regisseur Gerd Kroske zusammen, für den sie seitdem regelmäßig Dokumentarfilme gestaltete, darunter etwa die „Kehraus“-Trilogie (1990-2006).

Ihre Montage setzt feinfühlig erzählerische Akzente und tariert die oft sehr private Welt der Protagonist*innen mit dem großen – und kleineren – Zeitgeschehen um sie herum aus. In ihrer Arbeit als Schnittmeisterin hat sie durch ihr Gespür für Menschen und ihr großes Interesse an Gesellschaft und Politik über Jahrzehnte viele wichtige filmische Dokumente der deutschen Geschichte entscheidend mitgestaltet.

Die Vermessung der Zeit
Interview mit Ehrenpreisträgerin Karin Schöning

Der Eröffnungsfilm des Edimotion-Festivals ist dein Film “Der Boxprinz” aus dem Jahr 2000. Ich glaube, ich bin bei YouTube zum ersten Mal darauf aufmerksam geworden, weil eine bestimmte Szene des Films millionenfach angeklickt wurde. Es gab sogar Videos von Jugendlichen auf der Plattform, die diese Szene mit großem Spaß nachstellen. Das ist ungewöhnlich für einen deutschen Dokumentarfilm.

Karin Schöning:Ja, die Szene kennt glaube ich jeder. Die berühmte Backpfeife von dem Zuhälter Stefan Hentschel, der einen Passanten mit der flachen Hand niederschlägt, der neben ihm stehen geblieben ist. Dann geht Hentschel einfach weiter mit dem Kommentar, dass er keinen Bock habe, mit diesen Leuten zu reden und grüßt irgendjemanden in der Ferne fröhlich mit “Hallo Werner”, als wenn nichts gewesen wäre. Diese Szene hat einen gewissen Kultstatus im Internet gehabt. Wir haben sehr lange darüber diskutiert, ob sie im Film sein sollte und bei vielen Vorführungen wurde Kritik daran geübt. Insbesondere bei einer Vorstellung nach dem Kinostart, bei der der Regisseur Gerd Kroske auf der Bühne beschimpft wurde. Diese Person aus dem Publikum versuchte wegen der Szene sogar juristisch gegen den Film vorzugehen. Ich bewundere die Kamerafrau Susanne Schüle dafür, dass sie mit ihrer großen 35mm-Kamera unerschrocken und ganz professionell ihre Arbeit weitermachte.

Hast du damals noch analog geschnitten?

“Der Boxprinz” war der letzte Film, den ich analog geschnitten habe. Eigentlich hatte ich mir geschworen, dass ich nie digital schneiden werde. Aber zum Glück habe ich mich überreden lassen und eine Weiterbildung gemacht. Besonders die Kollegen und auch Gerd Kroske haben mir beim Umstieg geholfen. Als Monika Schindler den Europäischen Filmpreis für Schnitt gewann, hatte Andreas Dresen eine tolle Laudatio gehalten und gesagt, dass damals ihr Lieblingsbefehl “Steuerung-Z” gewesen sei. Und genauso ging es mir auch.

Mit dem Regisseur Gerd Kroske hast du besonders viele Filme gemacht, ihr seid auch privat befreundet. Wann habt ihr zum ersten Mal zusammengearbeitet?

Mit Gerd habe ich zum ersten Mal bei dem Film “Leipzig im Herbst” gearbeitet, im Jahr 1989. Er und Andreas Voigt haben zwischen dem 16. Oktober und dem 7. November die Massenproteste in Leipzig gefilmt und mit Demonstranten gesprochen. Schon am 24. November haben wir den fertigen Film bei der Dokfilmwoche in Leipzig gezeigt, wo er einen Spezialpreis gewann. Das bedeutete natürlich einen wahnsinnigen Zeitdruck. Ich und meine Kollegin Manuela Bothe haben in zwei Schneideräumen parallel buchstäblich Tag und Nacht daran gearbeitet. “Das ist unser Beitrag zur Wende”, haben wir uns damals gesagt.

Nun wart ihr ja alle Festangestellte beim DEFA Dokumentarfilm-Studio. Gab es dort keine Hürden, keine Bedenken, einen Film über die Proteste zu machen? Wie hast du die erlebt?

Eine Kundgebung am 7. Oktober in der Gethsemanekirche, am 40. Geburtstag der DDR, ist mir besonders im Gedächtnis. Das Gebäude war komplett von Stasi umstellt. Meine Tochter war mit ihren beiden Kindern dort und ich hatte große Angst, dass sie verhaftet werden. Bei dieser Demo konnte man erleben, wie Menschen, die dort protestieren, massenweise auf Lastwagen gestoßen und verhaftet werden. Es gab darunter Gruppen von Demonstranten, die wie Punker aussahen und die am lautesten von allen schrien. Die wurden nicht verhaftet, sondern durften nachher einfach unter den Augen der Polizei gehen. Uns war sofort klar, dass das Claqueure waren, die die Menge anheizen sollten, um die Verhaftungen zu provozieren. Es war ein Schock für mich und meine Freunde, mit denen ich diese Vorgänge beobachtete. Am nächsten Tag sind wir nach Neubrandenburg gefahren und haben dem stellvertretenden DEFA-Direktor Fritz Seidel unsere Erlebnisse geschildert, der uns eine Genehmigung für den Film gab. Ich glaube er und wir alle waren voller Optimismus in diesen Tagen. Wir waren uns sicher, dass die Dinge anders werden würden. Dass die sturen Holzköpfe, die da an der Regierung sitzen, merken, dass es so nicht weitergehen kann. Ich bin in dieser Zeit jede Woche mehrfach auf die Straße gegangen.

Und plötzlich war die Mauer am 9. November offen, noch während ihr im Schneideraum für diesen Film gesessen habt. Wie ging es danach weiter bei euch?

Nach der Maueröffnung ging die Arbeit bei der DEFA erstmal normal weiter. Aber wir konnten einen Betriebsrat gründen und erhöhten die Gehälter. Denn wir ahnten, dass wir bald alle entlassen werden würden. Die Leute sollten beim Arbeitsamt später mehr Geld bekommen. Und so kam es dann auch. Die ganzen Scharlatane, die vorgaben, die DEFA kaufen zu wollen, lösten sich in Luft auf. Genauso wie Genschers Versprechen, dass es weitergehen würde. Alle haben ihre Jobs verloren, auch die Menschen im Studio Babelsberg. Allein bei uns, beim Dokumentarfilmstudio, verloren 300 Leute ihre Anstellung, 26 in der Schnittabteilung. Das war erst mal eine beängstigende Zeit. Alles war völlig unsicher und ich zum ersten Mal freischaffend. Aber ich hatte Glück.

All diese Dinge passierten in so unglaublich kurzer Zeit. Und in deinen Filmen ist Zeit und Zeitgeschehen immer wieder ganz zentral. Aber wie war das in deinem Berufsalltag, hattest du immer genug Zeit zum Schneiden?

Wenn uns das Projekt wichtig war, haben wir uns die Zeit genommen, indem wir einfach immer länger gearbeitet haben. Bei meinem ersten Langfilm “Flüstern und SCHREIEN” mit Regisseur Dieter Schumann haben wir häufig auch an Wochenenden geschnitten. Der Film ist ein “Rockreport” und gibt Einblicke in die Underground-Musikszene in der DDR. 1988 kam er in die Kinos und so viel alternative Musik hatte mannoch nie in den DDR-Kinos sehen können, glaube ich.

Wie bist du damals bei euren Dokumentarfilmen an das Material herangegangen?

In der Regel habe ich das Material zuerst immer in voller Länge als stummes Muster auf der Leinwand gesehen. Dann ein zweites Mal am Schneidetisch mit dem angelegten Ton. Mit meinen Regisseuren habe ich dann Alles noch einmal komplett geschaut, das dritte Mal bereits für mich. Erst dann begann der Montageprozess. Ich habe das als großen Vorteil erlebt, weil ich nun vertraut war mit den gefilmten Szenen. Bei der Arbeit mit analogem Material war das sehr wichtig, denn jeder einzelne Schnitt bedeutete ja einen physischen Arbeitsprozess. Man musste sich also sehr genau überlegen, was man tat. Natürlich war das Drehverhältnis damals auch nicht so hoch, 1:8 galt schon als viel. Aber auch beim digitalen Schnitt habe ich dieses ausgiebige Sichten des gesamten Materials beibehalten, ich fand es für meine Arbeit wichtig, mich darin auszukennen.

Interessanterweise beginnt “Flüstern & SCHREIEN” ja mit einem Outtake, Paul Landers kommt zur Tür raus, will etwas sagen und vergeigt es, kommt wieder raus… Auch in anderen Filmen setzt du in markanten Momenten Material ein, das eigentlich ein Outtake ist. Das hast du vermutlich nicht in deiner Ausbildung zur Schnittmeisterin gelernt?

Ja das ist doch ein schöner Anfang, finde ich. Ich hatte zuerst eine Ausbildung als Filmkopier-Facharbeiterin gemacht. Dort haben wir in zwei Jahren alles gelernt: von der Entwicklung über Kopierung, Lichtbestimmung, finale Prüfung und vieles mehr, einmal durch alle Abteilungen. Das war ein Beruf, den es nur in der DDR gab und um den uns viele Westler beneidet haben. Ich hab anschließend beim Fernsehen als Kopiererin gearbeitet, und bin nach zwei Jahren zum Filmschnitt gekommen. Seit 1969 war ich bei der DEFA, von 1975 bis 1980 als selbstständig schneidende Assistentin und dann als Schnittmeisterin. Dafür habe ich im Fernstudium Filmschnitt und Dramaturgie neben der Arbeit belegt. In den 1970ern und 80ern habe ich sehr viele kurze Reportagen und Beiträge montiert und über diese Arbeit einen freieren Zugang zum Material gewonnen.

Und du warst dabei auch für die Tongestaltung verantwortlich?

Wir haben Bild und Ton bearbeitet, Musiken angelegt und Geräusche bearbeitet. Obwohl die akustischen Ergebnisse dieser Jahre im Dokumentarfilm nicht besonders anspruchsvoll aus heutiger Perspektive klingen mögen, war die Arbeit ein komplizierter Vorgang. Es gab eine eigene Tonabteilung, in der jedes Geräusch gesucht, gefunden und dann im Schneideraum angelegt werden musste. In der Mischung haben wir erst den fertigen Film gesehen, rollenweise. Das war immer ein aufregender Moment, ob auch alles stimmte, was wir gemacht haben. Da hat der Digitalschnitt und die digitale Tongestaltung heute mit seinen beliebig vielen Spuren ganz andere Möglichkeiten und gestalterische Herausforderungen. Der Film “Kinder. Wie die Zeit vergeht” (2007) von Thomas Heise hat z. B. ein markantes Sounddesign, das mit der ersten Einstellung beginnt, die mit Vogelgezwitscher unterlegt ist. Das ist eine Tongestaltung, die gegen das Bild gesetzt ist, denn wir sehen Nachtaufnahmen einer Raffinerie. Für mich waren Geräusche und der Ton insgesamt immer sehr wichtig für die Filme.

Bei einigen deiner Filme sind die Protagonisten Randfiguren der Gesellschaft. Sie sind ohne Perspektive, ohne Arbeit oder Trinker, oft alles zusammen. Wie gehst du mit solchen Protagonisten im Schneideraum um? Werden sie in den Montageprozess einbezogen?

Es war mir immer sehr wichtig, dass die Leute nicht bloßgestellt werden. Es wäre schrecklich für mich, wenn jemand durch meine Arbeit der Lächerlichkeit preisgegeben würde. Deshalb muss man sehr vorsichtig mit Szenen umgehen, in denen die Menschen sichtlich verletzbar sind, beispielsweise weil sie betrunken sind. Man manipuliert ja mit jedem Schnitt. Solche Protagonisten, die du meinst, gab es ja insbesondere bei den zwei “Kehraus”-Filmen, die ich mit Gerd gemacht habe. Eine Langzeit-Beobachtung, in der wir die Lebenswege von drei Menschen über 25 Jahre beleuchten, die nie in der Gesellschaft Fuß gefasst haben. Im zweiten Film enthüllt die Protagonisten Gaby beim Kochen beinahe beiläufig, dass ihr Mann die gemeinsame Tochter jahrelang vergewaltigt hat. Wir haben uns im Schnitt lange Gedanken gemacht, ob wir das mit reinnehmen können. Wir haben es getan und die Geschichte dieses Missbrauchs dann mit der Tochter zu einem wesentlichen Teil des dritten Films gemacht. Aber ich glaube, es wäre weder für die Filme noch für die Protagonisten gut gewesen, wenn wir sie in den Montageprozess direkt einbezogen hätten. Gerd ist mit den quasi fertigen Filmen zu ihnen gefahren, um sie ihnen vorzuführen und um ihr Einverständnis zu bitten.

Bei Edimotion wird im Oktober neben “Der Boxprinz” auch der Film “Barluschke” (1997) zu sehen sein, den du mit Thomas Heise gemacht hast. Hier haben wir einen Protagonisten, der sich des Films bedienen möchte, um sein Leben als Spion zu glorifizieren. Wie seid ihr da vorgegangen?

“Barluschke” war wirklich eine Herausforderung. Die Produzentin Katrin Schlösser war auf diesen Mann gestoßen, der als Spion für die Stasi und den BND gearbeitet hatte. Er verkaufte später Waffenbestände der NVA mit einer eigenen Firma. Nun lebte er mit einer Frau, die eine angesehene Wissenschaftlerin ist, und den gemeinsamen Kindern zusammen, und geht ganz fürchterlich mit ihnen um. Ich weiß, dass es ein langer Prozess war, ihn zu diesem Film zu bewegen, Thomas ist sehr oft zu ihm gefahren. Als er dann eingewilligt hatte und die Dreharbeiten begannen, war sofort spürbar, dass Barluschke versucht, diesen Film an sich reißen. Er sah ihn als Chance, sein Leben zur Legende zu verklären. Er gab Thomas eine ganze Reihe von privaten Videobändern. Wir sehen darin, wie er die Videokamera aufstellt, um seine Familie am Essenstisch zu filmen und dann schreit er seine Kinder an und macht sie runter, dass es einem kalt den Rücken runterläuft. Es ist erschreckend zu sehen, wie er diese Familie im Griff hat und ich verstehe bis heute nicht, warum die Frau mit ihren Kindern nicht einfach abgehauen ist.

Mit diesen schockierenden Familien-Szenen am Ende wird der Anfang des Films in ein ganz anderes Licht gerückt.

Als erste Szene haben wir eine Szene ausgewählt, bei der Barluschke seine Familie für die Filmkamera wie bei einer Fotoaufnahme aufstellt. Hier wird schon sehr viel über die Machtverhältnisse innerhalb der Familie deutlich. Da aber alles chaotisch verläuft, wirkt es harmlos und lustig. Wir hatten normale Interviewszenen mit ihm, in denen er sehr beherrscht ist und andere, in denen er vor der Kamera anfängt zu trinken oder sogar Drogen nimmt. Diese setzen wir dann zunehmend in der zweiten Filmhälfte ein, wir enthüllen immer mehr die dunklen Seiten von Barluschke und entwerfen in der Montage das Psychogramm eines Mannes, der sehr stolz darauf ist, dass er berufsmäßig Menschen hinters Licht geführt hat. Und eines Mannes, der seine Familie quält, und der von Selbstsucht und diversen Drogenproblemen beherrscht ist. Wenn du mich fragst, ist dieser Film das Porträt eines Psychopathen.

Interview: Werner Busch

Laudationes

Gerd Kroske in Köln am 23.Oktober 2020

Es sind ja bedrückende Momente derzeit. Ich stehe Ihnen gegenüber und sehe in ein Publikum hinein, das aseptisch mit Masken bewehrt einer Laudatio folgen möchte. Zugleich wird öffentlich, dass der Kölnische Kunstverein dem Filmclub 813 die Räumlichkeiten aufgekündigt hat. Ich hoffe Sie sind alle willens genug sind, dafür einzutreten, dass das nicht eintritt.

Und doch, unabhängig dieser Miseren haben wir heute einen wirklich fröhlichen Grund zusammenzukommen, denn Karin-Gerda Schöning wird für ihre Montagearbeit geehrt. Als mich Werner Busch vor ein paar Monaten anrief und mir diese Entscheidung übermittelte dachte ich: „Endlich! Das wurde nun auch mal Zeit!“

Laudationes beginnen ja oft mit der Lobpreisung der guten Eigenschaften der Preisträgerinnen und Preisträger. Diese hier alle aufzuführen, dafür reichte die Zeit nicht, und unweigerlich gerieten wichtige Eigenschaften falsch annonciert, nicht ausreichend dargelegt. Zusammenhänge fehlten dann und herauskäme eine Lichtgestalt ohne Haut und Knochen. Zumal es den sowjetischen Limerick gibt, der ja davon spricht, dass: "Orden und Auszeichnungen wie Fliegerbomben sind: sie kommen immer von Oben und treffen die Unschuldigen.“

Dem würde ich hier heute vehement widersprechen in Anbetracht der Wahl unserer Preisträgerin: Nein, hier trifft es die Richtige und es ist verdient! Sehr sogar. Anstelle einer Hagiographie möchte ich Ihnen stattdessen lieber beschreiben, wie wir arbeiteten. Kurz umrissen: Eigentlich haben wir immer nur Material geschaut und ich durfte das Montieren miterleben.

Karin-Gerda wird sich unserer Erstbegegnung nicht mehr entsinnen, denn es war im Frühjahr 1985; ich kam als Student zu einem Praktikum ins Dokumentarfilm-studio der DEFA in Ost-Berlin. In dieser Zeit bekam ich auch den Auftrag aus der Schnitt-Etage 35 mm Materialien abzuholen, um sie zurück ins Archiv zu bringen. Dieses Studio war ein ineinander verschachteltes Labyrinth mehrerer Häuser, die durch Durchbrüche miteinander verbunden waren. Die prominenteste Etage war die der Schnittfrauen, strategisch gut gelegen zwischen Kantine und Archiv und weit genug weg von der Direktionsetage. Die Räume lagen hintereinander, waren mit Balkonen versehen und sie genossen eine besondere Aura. Das lag an dem autark wirkenden Regime dieser hier zusammenarbeitenden Frauen in der Etage. Und in einem dieser Räume saß SIE, damals in weit gewandetem Kleid mit einer unschlagbaren Freundlichkeit übergab sie mir die zu transportierenden Archivbüchsen. Hinzu bekam ich den dezente Hinweis, die Büchsen nicht fallen zu lassen. Dass mir genau das geschah! Und gestolpert auf einer Treppe kurz vor Erreichen des Archivs sitzend, begann ich die herausgefallenen Filmrollen neu auf ihren Kern aufzuwickeln. Natürlich sprach sich das Praktikanten-Malheur herum und wenige Tage später sprach mich Karin-Gerda Schöning in der Kantine an. Verschmitzt meinte sie: „Haben sie das Material richtig herum gewickelt?“ Es war ein Moment, wo sich unter einem der Boden auftut und man tief hinab im Strudel der Scham versinken möchte. Es sind ja immer die peinlichen Momente von Blamage, aus denen sich am meisten lernen lässt. Nie habe ich wieder eine Filmbüchse fallen lassen.

Ein paar Jahre später fanden wir dann durch gemeinsames Arbeiten zusammen, das war zum richtigen Zeitpunkt und der beste Moment, den man dafür finden kann, inmitten seiner gravierenden Umbrüche. Es klänge hier –heute vor Ihnen– fast tautologisch es noch zu benennen, was durch die Montage mit dem Material geschieht, wie daraus ein Film wird. Einen Schnitt in das Material setzen, die Bewegung abbrechen, einen Fortgang erzeugen oder abrupt einen Gedanken unterbrechen, strukturieren, eine Richtung im Film vorgeben, eine Bedeutung erzeugen, fokussieren und eine weitere Bedeutungsebene erzeugen usw. Aber evident dabei ist: WIE geschieht das?

Zitat: „Wenn Inszenieren ein Blick ist, dann ist Schneiden ein Herzschlag. Voraussicht gehört zu beiden, aber was jenes im Raum vorauszusehen versucht, sucht dieses in der Zeit.“ nannte das Godard einmal in seinem Text „Schnitt, meine schöne Sorge“.

Natürlich, man schneidet zuallererst durch Sehen. Man folgt einem Blick. Von unserer Preisträgerin habe ich lernen dürfen, dass man sein Material gründlich kennenlernen muss, und wie man das macht. Das heisst, es anzusehen, wieder anzusehen und erneut hinzusehen. Bei diesem Erarbeiten durch Sehen erfasst man ein jedes Detail im Material. Das wiederholte Besehen führt zur Kennerschaft im Material und den darin aufscheinenden Protagonistinnen und Protagonisten, den Orten und ihren Räumen. Durch diese Wiederholungen im Sehen lernte ich zu verstehen, wann und warum es jemanden die Stimme versagt, wann in einer Erzählung die Auslassungen beginnen, wie Jemand ausschweift, die Lüge beginnt, Pausen setzt, sich im vertrauten oder fremden Raum bewegt oder einem, ohne das dass beim Drehen schon zu erschliessen wäre, ein Protagonist*in plötzlich Unbekanntes und auch Ungeheuerliches anvertraute.

Dass, was uns, –so glaube ich–, für die Zusammenarbeit verband, war immer ein unausgesprochenes Credo gegenüber Material und Protagonistinnen und Protagonisten:
-Niemand wird vorgeführt,
-alle lernen den Film vor der Veröffentlichung kennen,
-Protagonisten*innen, die sich um Kopf und Kragen reden, werden in der Montage vor sich selbst geschützt.
-Wir denunzieren nicht mit unseren Filmen!

Das Karin-Gerda Schöning einen Montagestil entwickelt hat, der seine eigene Grandezza hat, kann man in ihren Filmen sehen. Nie würde sie besondere Pirouetten, Volten und Arabesken der Schnittkunst vordergründig einem Film und seinem Material aufzwingen. Sie macht das feiner und grandios dezent, sehr feingliedrig, filigran zuweilen um das auch, organisch wirkend, hart abbrechend könnend. Sie weiss darum, wie lange eine Szene dauern darf, wann Dynamik gebraucht wird, und die Ruhe vonnöten wird.

Mit unserer Preisträgerin verbindet mich eine große Anzahl so gemeinsam erarbeiteter Filme (es sind wohl 13-14 vornehmlich Langmetrage Filme in beinahe dreißigjähriger Zusammenarbeit geworden.) Das ist eine Strecke, die hält man nur aus, wenn es etwas zutiefst Verbindendes gibt. Im Falle unserer Zusammenarbeit, die ich eher als eine freundschaftlich-künstlerische Komplizenschaft in Sachen Dokumentarfilm begreife, war das von Anbeginn so. Ein wirklicher Glücksumstand, wenn man so arbeiten darf. Denn, das Glück besteht ja darin, wenn Sie, –so wie ich–, auf jemanden treffen, der seine Arbeit sehr gerne macht, die Zusammenarbeit liebt und einen entstehenden Film als eine gemeinsame Reise mit offenem Ausgang begreift.

Erwähnen muss ich dabei, dass unser Zusammentreffen in eine Zeit fiel, in der das Studio in dem wir ursprünglich arbeiteten (Karin-Gerda seit 1969, ich seit 1987) am Ende, in Zeiten größter Staatsagonie in der DDR zu seiner künstlerischen Höchstform auflief. Und dann war Schluss. Das ehemals volkseigene DEFA-Dokumentarfilm Studio interessierte einige Hasardeure, dann mischte die Treuhandanstalt noch mit. 1991 war es aus und vorbei. Unsere Preisträgerin legte eine Schnittpause ein und trotzte im Betriebsrat für ihre Kolleginnen von der gewendeten Geschäftsleitung verträgliche Konditionen ab. Zu meinem Glück fand sie, nachdem auch das getan war (bei ihr ist das: sich für Andere Einsetzen) zur eigentlichen Berufung, ihrer Profession des Schnitts zurück. Technisch hiess das auch, eine Art Transformation hinzubekommen, denn in Ost und West, so stellte sich nun heraus, wurden die Startbänder mit dem Beep anders belegt (Start-beep Ost auf der 3, Start-beep West auf der 2), die Filmmaterialien verschieden gewickelt (Schicht aussen, Schicht innen), Randnummern des Ostens waren die Fussnummern im Westen usw. Das rein Technische war halbwegs leicht zu lösen.
Das Arbeitsklima aber, in der sogenannten Filmbranche und die Konditionen darin, waren zu der Zeit nicht zum Besten bestellt. Es herrschte Goldgräberstimmung in dem auch „gehauen und gestochen“ wurde und am dussligsten hat das einmal Volker Schlöndorff markiert, der ja im Auftrag der neuen französischen Eigentümer der ehemaligen DEFA Studios in Potsdam-Babelsberg einige Jahre (1992-97) als einbestellter Geschäftsführer vorstand und noch 2008 meinte urteilen zu können:
(Zitat) „Den Namen DEFA habe ich abgeschafft. Die DEFA Filme waren furchtbar…. Bei der DEFA hat alles vor sich hingesuppt.“
In Berlin würde man dazu sagen: „Gelatscht ist gelatscht“.

Was unsere Preisträgerin für Ihre Profession als „Montagistin" aus der DEFA mitbrachte war ein enzyklopädisches Wissen um Film, seine praktische Herstellung, auch um die fotochemischen Prozesse. Immerhin hatte sie1962 eine Ausbildung als Filmkopierfacharbeiter im Film-Kopierwerk Berlin-Johannisthal abgeschlossen, dann als Schnittassistentin beim Fernsehen gearbeitet (bis 1965) 1969 kam sie ins DEFA Dokumentarfilmstudio Berlin als Schnittassistentin, bekam die ersten eigenverantwortlichen Schnittarbeiten übertragen; und so hat sich Karin-Gerda Schöning den Schnittmeistervertrag 1985 durch hart erarbeitete Könnerschaft verdient. Legendär sind ihre Ordnungsregime im Material (egal ob analog o. digital), die mit somnambuler Leichtigkeit aus dem vermeintlichen Chaos von Material im richtigen Moment diejenige Einstellung findet, an die man sich nur noch schemenhaft erinnerte. Tonmeister und Kameraassistenten hat sie getriezt um vernünftige Bild-und Tonberichte geliefert zu bekommen. Ich muss nicht erwähnen, dass sie das immer durchsetzte.

Der geflügelte Satz von Produzenten: „Das biegen wir schon beim Schnitt hin“, der hat bei unserer Preisträgerin keinen Bestand, denn sie erwartet auch, dass Einstellungen, Schwenks, Fahrten einen Anfang und ein Ende finden. Also in ihrem >Entstehen als Blick bereits entschieden sind, damit sie in der Montage ihre Entscheidungen zum Editieren treffen kann.

Erarbeitet hat sie sich dabei auch eine fast gleichmütig zu nennende Resilienz, gegenüber Allen und Jedem, der sich einem Film unproduktiv in den Weg stellt, Hindernisse errichtet oder Fehlurteile darüber treffen möchte.
Jeder, der je einen Film gemacht hat, weiss, dass es zum Schneiden eines Films auch dazu gehört, genau den Moment zu erfassen, wo das Material und dass was sich damit erzählen liesse, auch an seine Grenzen stösst, es also der Moment ist, an dem man aufhören muss zu montieren, um nicht den Prozess der Zerstörung zu durchlaufen. Wir haben es vor ein paar Jahren noch erlebt, wie uns ein Redakteur(einer derjenigen, die immer von eigenen „Bauchgefühlen“ beim Sehen sprach) sich jedesmal Neues wünschte und Vorschläge zur Änderungen machte, die unerfüllbar blieben. Wir haben diesen Prozess nur dadurch beenden können, dass wir einer Erwartung des Redakteurs, weiter am Schnitt zu arbeiten nicht folgten und stattdessen vierzehn Tage unsere eigenen, immer liegen gebliebenen privaten Kinderfilme schnitten. Zwei Wochen später führten wir dieselbe längst gesehene „alte“ Fassung vor und erlebten die ehrliche Begeisterung des Redakteurs, der bis dahin durch permanente Unentschiedenheiten unsere Fertigstellung behinderte. Nun fand er unsere Arbeit (wörtlich) „grandios“.
In einer mich immer wieder in Erstaunen versetzenden Freundlichkeit kann unsere Preisträgerin in solchen Momenten mit listigen Entgegnungen, Hinterfragung, einem Lachen, diesen redundanten Versuchen gegenüber sehr entwaffnend sein. Da ist sie dann ganz Komplizin.

Diese ihre Fähigkeiten zur Resilienz haben auch ihren Ursprung in der Arbeits-Sozialisierung in der DEFA, wo jeder Film vor einer Veröffentlichung seine Abnahmerituale innerhalb des Studios bis hin zum Ministerium zu durchlaufen hatte. Wer die ideologisch verbrämten Abkanzelungen künstlerischer Arbeit miterlebte, –und das haben wir beide–, benötigte eigene Strategien, um Verstümmelungen der eigenen Arbeit zu verhindern. Wenn sie morgen die Veranstaltung „Meet Karin Schöning“ besuchen wollen, dann nutzen sie die Gelegenheit und fragen Sie sie danach. Denn listig sein bei der Arbeit am Schnitt, dass muss man auch heute.

Kurzum:
Sehr geehrte Mitglieder der Jury und Kuratoren, ich beglückwünsche Sie zu Ihrer Wahl, Karin-Gerda Schöning zu Ihrem Preis, und Ihnen allen danke ich für die Aufmerksamkeit.

Thomas Heise in Köln am 26. Oktober 2020

Liebe Karin

Es war ein bisschen überraschend für mich, als ich heute gelesen habe, dass eine Laudatio von Gerd Kroske hier vorgetragen wurde, und wenn ich lese, was da steht, muss ich einiges ändern, um nicht mit Wiederholungen zu behelligen. Am liebsten hätte ich heute zu dieser, Deiner sehr verdienten Auszeichnung nichts weiter gesagt, als dass ich sehr, sehr froh bin über den Zufall, dass wir uns eines Tages kennengelernt haben. Das wäre Deiner branchenunüblichen Bescheidenheit gemäß, und wäre Dir wohl ganz recht. Etwas ganz kurzes Freundliches, gesagt und gut. Aber das geht wirklich nicht.

Schaute man im Netz nach Dir, vor dem August dieses Jahres, war da nichts zu finden über Dich, außer bei anderen fandest Du gelegentlich unvollständige Erwähnung. Es wäre toll, dieser Preis für dein Lebenswerk, würde zur Folge haben, dass die, die das Pech haben, Dich bislang nicht kennengelernt zu haben oder bestenfalls als Miterwähnte, allein durch den Blick auf die lange Liste der Filme, die Du geschnitten hast, von denen viele übrigens wichtige Preise errungen haben, eine Ahnung von Dir bekommen. Und eine Ahnung davon, was Du lebst. Und das meint nicht nur das Handwerk, das Du beherrschst.
Das meint die wunderbare, freundliche, im besten Sinne neugierige, kluge Frau die Du bist, Deine Herzlichkeit, Dein Verständnis, den Respekt den Du jedem zukommen lässt dem Du begegnest.

Die erste filmische Nachricht, die ich von Dir fand, ist die von einem Abendgruß des Kinderfernsehens, der im DEFA Studio für Dokumentarfilme produziert wurde,in der Otto-Nuschke Straße in Berlin.
Nebenbei, mal abgesehen von Karin, die weiß wer das war, wissen Sie es? Otto Nuschke war der Vorsitzende der CDU der DDR und ihr stellvertretender Ministerpräsident vom 7. Oktober 1949 bis zu seinem Tod 1957. Ein Journalist in den zwanziger Jahren, ein Christ der linksliberalen Deutschen Demokratischen Partei und dann Mann des „Reichsbanners Schwarz Rot Gold“ in der Weimarer Republik. Ein Mann, der später vom Widerstand des 20. Juli 1944 als Leiter des zukünftigen Rundfunks vorgesehen war. Otto Nuschke. Heute also wieder Jägerstraße wie früher. Nach einem kurfürstlichen Jagdhaus, das dort in der Nähe einmal gestanden hat. Die Revolution 1918 hatte den Adel seinerzeit abgeschafft. Nun taucht er als Replik wieder auf.
Der Abendgruß aber, den ich meine, war ein „Sandmann“ aus dem Jahr 1975, es ging darin optimistisch um Plastik und Blumen, also Chemie und Schönheit. (Später wirst Du auf das Thema in einem anderen Film zurückkommen.)

Wann haben wir uns kennengelernt?
Wir hatten vielleicht schon vor dem Januar 1989 miteinander gesprochen, 1982 möglicherweise schon, als ich an einer Auftragsarbeit meines Fachrichtungsleiters für Regie an der Babelsberger Filmhochschule bei der DEFA in Berlin saß zum Abschluss meines Regiestudiums umfassend betreut von einigen Informellen Mitarbeitern des MfS. Eine Sache, die mit der Vernichtung des dabei entstandenen Films und meiner Exmatrikulation endete. Die Zeit war schon länger aus allen Fugen und die Wechselfälle des Lebens folgten aufeinander in beachtlichem Tempo. Und da an Film für mich nun nicht mehr zu denken war, hatte es mich ans Theater verschlagen und dann habe ich plötzlich mit Dir gearbeitet. Für Fritz Marquardts Inszenierung von Heiner Müllers Stück „Germania Tod In Berlin“, der Erstaufführung in der DDR am 20. Januar 1989 im Berliner Ensemble am Bertolt-Brecht-Platz in der Hauptstadt der DDR, hatten wir die Sterbeszenen aus Fritz Langs Nibelungenfilm aneinander montiert, die sich im Theater überlebensgroß mit dem inszenierten Bühnengeschehen verbanden, der Szene „Hommage an Stalin 1“ aus dem Kessel von Stalingrad. Ein Berg aus Leichen, darauf Hagen, Volker und Gunther einander in Stücke schlugen, ihre Trümmer sich mit den anderen Leichenteilen, gespielt von einer großen Gruppe choreografierter Laiendarsteller, verbanden und sich mit ihnen und Lärm aus Metall, Schreien und Gesangsfetzen zu einem riesigen Monster aus Schrott und Menschenmaterial formierten. Das war im Januar 1989.
Einige Monate später, am 8. Oktober dieses Jahres waren die Theater der DDR nicht mehr nur während der Aufführungen Orte politischer, offener Diskussion der Gesellschaft. Jetzt bat im Berliner Ensemble die Schauspielerin Corinna Harfouch die Zuschauer vor der Vorstellung zum Gespräch danach, über Germania, den Tod und Berlin. Jeder im Saal wusste, nach den Ausschreitungen von Volkspolizei und Staatssicherheit der letzten Tage, was damit gemeint war. Und der Intendant lud die Schauspielerin in sein Büro zu einer mahnenden Aussprache für diesen Satz.

Diese Zeit, als hunderttausende Bürger der DDR sich im ganzen Land auf die Straße begaben, um laut und deutlich zu verkünden, was sie sich dachten, markiert etwa die Hälfte Deines Arbeitslebens und die Filme, die Du geschnitten hast davor und danach, erzählen von der Wirklichkeit, von Menschen. Mit einer Haltung, die Offenheit, Anständigkeit und Wahrhaftigkeit ihnen entgegenbringt.
Mitte der Siebziger Jahre mit Günter Kotte und Heiner Silvester zum Beispiel, ein Film über einen Veteranenchor in der Rosenthaler Straße 51 in Berlin, sehr alten singenden Kommunisten.
Mit Joachim Tschirner bei „Katrin“ einer jungen Frau aus dem Leitstand des Walzstahlwerks der Maxhütte Unterwellenborn.
Und mit Heinz Brinkmann z.B. beim Film „Die Karbidfabrik“ der die katastrophalen Arbeitsbedingungen in der hoffnungslos maroden Karbidfabrik in Schkopau an der Saale zeigt. Die Menschen, die ihre Fabrik aushalten. Die Saale, der Fluss, in den die giftigen Abwässer dieser Produktion versenkt wurden. Mit Heinz Brinkmann hast Du oft gearbeitet. An „Ich sehe hier noch nicht die Sonne“, einem Film über Arbeiter an der Erdgastrasse „Drushba“ in der Sowjetunion, damals im November 1989, grübelnd fern der Heimat, in der im Verlauf der Revolution kein Stein auf dem anderen blieb; oder 1990 an „Komm in den Garten“ 1990, ein Film über das Leben, wie es einem geschieht, das Scheitern und das zum Scheitern gebracht werden und das Überleben darin, und alle Verzweiflung enthält Komisches, Groteskes, das dem Tragischen innewohnt. Und die Balance, die Wirklichkeit der Widersprüche zwischen diesen sehr verschiedenen Ebenen arbeitet dein Schnitt präzise heraus. Und weiter, Filme wie „Der Irrgarten“, „Usedom“, „Die Stute auf dem Grasdach“, „Insellicht“, und „Hinter den Bergen“ und mehr, bis zu Heinz Brinkmanns Tod im vorigen Jahr.
Aber schon mit dem nahenden Ende der DDR kommen andere Namen dazu und in Dein Leben, eine andere Generation. Gerd Kroske und Andreas Voigt mit „Leipzig im Herbst“, Gerd später immer wieder mit „Voksal – Bahnhof Brest“, Kehrein / Kehraus, „Der Boxprinz“, „Wollis Paradies“ und „Striche ziehen“ - lauter gute, erhellende, wichtige Filme.

Auch ich tauchte wieder auf. Wir haben uns nach der Arbeit für „Germania“ dann 1991 wiedergesehen, bei meinem ersten langen Film. 16mm. „Eisenzeit.“ Der Film für Mario, Thilo und Frank, drei Jungen aus Stalinstadt, dann Eisenhüttenstadt, der ersten sozialistischen Stadt der DDR. Und Du hast sehr genau gewusst, dass es bei diesem Film, der eine vom MfS abgebrochene Arbeit aus der Filmhochschule wieder aufnahm, sehr ums Eingemachte geht, denn zwei meiner Helden, mit denen ich rund zehn Jahre früher befreundet war und mit denen ich einen Film begonnen hatte, der dann abgebrochen werden musste, auf Anweisung des Innenministeriums hatten sich inzwischen aufgehängt, an einem Garderobenhaken und an einem Hochbett. Du hast mich bei diesem Film – ich muss das mal so sagen – „gehalten“. Die Verletzungen waren ja nicht verheilt, die Wunden offen geblieben, die Akten noch nicht einmal geöffnet. Es war eine Anstrengung, auch für Frank den Überlebenden. Denn alles war ineinander geraten, die rasende Wirklichkeit, das Gestern noch und das unwägbare Heute, alles war unsicherer, schwankender Boden. Es wollte lange nicht gelingen, mit Frank dem Überlebenden ins Gespräch zu kommen. Ich werde es nicht vergessen. Dann, für einen letzten Versuch ein Gespräch mit Frank für „Eisenzeit“ zu drehen, holten wir die Technik aus der Nuschkestraße. Dort hing aus den Fenstern des DEFA Dokumentarfilms bis hinab auf die Straße Film um Film und es wurde lauthals gefeiert. Was? Das Verschwinden? Es war hoffnungslos. Zukunft kommt und geht vorbei.
Dann fuhren wir zum Dreh. Und jetzt, als ich von Frank nichts mehr wollte, keine Erklärungen, keine passende Szene, sondern einfach nur da sein konnte und ihm ganz absichtslos zuhören, passierte eine unglaubliche Szene: zum ersten Mal in seinem Leben sprach Frank vom Terror seines Elternhauses. Das war sehr nah und intim. Ich glaube, auch das hat mit Karin zu tun. Ich hatte von ihr gelernt. Mich einzulassen auf die Dinge und ihnen aufmerksam zu folgen ohne Ansprüche an sie zu stellen. Jetzt redete Frank, die ganze Geschichte.
Ich erinnere mich auch gut, wie wir damals den Sprechertext aufnahmen: Ich panisch, das nicht hinzubekommen oder sentimental zu werden, trank vorneweg hastig einen halben Liter Wein. Dann las ich aus meinen Notizen vom Anfang der achtziger Jahre, als Tilo und Mario noch lebten. Du hast es ganz ohne Anstrengung irgendwie geschafft, dass ich Dir vollständig vertraute. Darum habe ich sprechen können. So etwas hatte ich bislang noch nicht erlebt. Dann vergingen fast sieben Jahre.

Es ging um „Barluschke“. Einen modernen Menschen. Einsetzbar. Ein letztes Mal auf 16mm und mit analogem Schnitt. Unser Schneidetisch stand nicht mehr bei der DEFA, die gab es jetzt nicht mehr, sondern er stand im muffigen Keller des Kinos Babylon am Rosa – Luxemburg – Platz. Der Film, ein Kraftakt. Ein scheinbar nicht greifbarer Protagonist mit wechselnden Identitäten, in endlosen Redeschleifen, die einen zum Verdämmern brachten. Wir haben lange gebraucht, um eine Form zu finden, ein Umkreisen dieser Figur, das sezierende Zerlegen ihres wortreichen Lügens, Verschweigens und Erfindens; den Kern seiner Sprache, die unbestimmte Lüge freilegend. Ein Film, der mich krank machte und den ich ohne den immer wieder ermunternden Rückhalt von Karin und ohne ihre Geduld, bestimmt nicht ausgehalten und beendet hätte.

Ich habe mich also zu bedanken, wie man sieht, ich werde die Liste der Belege dafür jetzt nicht fortsetzen. Zu bedanken bei einer klugen, freundlichen und liebenswürdigen Frau, die bis vor kurzem der nächsten Generation junger Filmemacher und Filmemacherinnen an der Akademie der bildenden Künste in Wien analogen Schnitt am Steenbeck beibrachte, die Freude zeigte, die das macht.

Danke.

Archiv Preisträger*innen

Mit der Hommage und dem Ehrenpreis Schnitt wurden bislang gewürdigt:

2019: Heidi Handorf
2018: Norbert Herzner
2017: Inge Schneider
2016: Ursula Höf
2015: Christel Suckow
2014: Barbara von Weitershausen
2013: Juliane Lorenz
2012: Raimund Barthelmes
2011: Gisela Haller
2010: Monika Schindler
2009: Barbara Hennings
2008: Peter Przygodda
2007: Helga Borsche
2006: Dagmar Hirtz
2005: Evelyn Carow
2004: Thea Eymèsz
2003: Brigitte Kirsche
2002: Klaus Dudenhöfer

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